Warum man japanische Wörter teils übersetzen kann, ohne sie zu kennen
Vor vielen Jahren - als ich noch nicht ernsthaft Japanisch gelernt habe - habe ich irgendwo einmal die Aussage aufgeschnappt, durch die Schriftzeichen könne man Wörter lesen, die man bisher noch nicht gelernt hat. Heute hatte dafür ein ganz nettes Beispiel - ein Liedtitel eines Lieds der japanischen Band Whiteberry.
Die japanische Schrift
Um es zu erklären, muss ich ein klein wenig ausholen. Japanisch verwendet drei Schriftsysteme: Hiragana, Katakana und Kanji. Hiragana und Katakana sind Silbenschriften. Ein Zeichen steht für eine Silbe, wobei man die Zeichen auch noch ein wenig kombinieren kann, um komplexere Silben zu bilden. Die Zeichenmenge ist aber sehr überschaubar und recht gut zu lernen. Hier einmal Hiragana und Katakana in der jeweiligen Schrift geschrieben: ひらがな (hi-ra-ga-na), カタカナ (ka-ta-ka-na).
Und dann gibt es noch die gefürchteten Kanji - aus dem Chinesischen übernommene Schriftzeichen. Davon gibt es deutlich mehr (der Standardsatz umfasst ca. 2000 Zeichen und darüber hinaus kann man quasi endlos weiterlernen) und das Erlernen dauert lange. Diese Zeichen haben dreierlei: In der Regel eine grobe Bedeutung und zweierlei Lesungen (Onyomi und Kunyomi genannt). Die Onyomi-Lesung entstammt ursprünglich dem Chinesischen, die Kunyomi-Lesung entstammt dem Japanischen. Als Grundregel kann man sich merken, dass bei alleinstehenden Kanji eher die Kunyomi-Lesung verwendet wird, bei Begriffen aus mehreren Kanji eher die Onyomi-Lesung. Natürlich gibt es Ausnahmen.
Die nötigen Kanji
Als fleißiger Wanikani-Nutzer lerne ich jeden Monat neue Kanji und habe - wie wkstats.com mir gerade anzeigt - vor kurzem die 1000-Kanji-Grenze überschritten. Man möge mir die kleine Angeberei verzeihen, ich freue mich gerade selbst über diese psychologische Marke.
Da der Text sich auch an Leute richtet, die kein Japanisch lernen, gebe ich im Folgenden auch die lateinische Umschrift an. Ansonsten vermeide ich sie eher.
Unter diesen Kanji befinden sich auch:
- 桜: Kirschbaum (Onyomi: おう/ou, よう/you, Kunyomi: さくら/sakura)
- 並: Durchschnitt; Reihe (Lesungen: zu viele…)
- 木: Baum (Onyomi: もく/moku, ぼく/boku, Kunyomi: き/ki, こ〜/ko-)
- 道: Straße, Route (Onyomi: どう/dou, とう/tou, Kunyomi: みち/michi, いう/iu)
Die Lesungen habe ich von Jisho abgeschrieben, manche davon sind eher unüblich. Ich kannte zumindest nicht alle und bin soweit ganz gut durchgekommen. Zum Beispiel für こ〜/ko- fallen mir gerade nur zwei Vokabeln ein, wo ich diese Lesung gesehen habe: 木の葉 (このは/konoha, Blatt, Laub) und 木漏れ日 (こもれび/komorebi, Licht, das durch Baumkronen fällt). Letzteres entstammt auch einem Liedtitel, sonst wäre ich auf das Wort bestimmt nicht gestoßen.
Zumindest bei Wanikani ist es übrigens nicht so, dass man die Lesungen stupide auswendig lernt. Wanikani stellt mit dem Kanji selbst in der Regel eine Lesung vor. Die zweite Lesung (oder ggfs. auch andere seltenere Lesungen) lernt man bei Wanikani später mit Beispielvokabular. Das macht das Lernen deutlich angenehmer als es hier jetzt vermutlich aussieht.
Wie ich bei jisho.org sehe, war 桜 genau genommen nicht unter den Kanji, die ich bisher bei Wanikani gelernt habe. Es kommt dort nämlich erst in Level 32. Man kommt an diesem Kanji aber nicht vorbei, wenn man japanische Musik hört oder japanische Nachrichten im Frühling liest (Ausnahmezustand Kirschblüte! Zeitungen berichten, wo in Japan die Kirschblüte schon gestartet hat und wann sie wohl wo beginnen wird - natürlich mit Reporter vor Ort, der Passanten befragt).
Der Liedtitel von Whiteberry
Jetzt will ich die Spannung aber endlich auflösen. Es geht um das Lied 桜並木道. Und jetzt überlegen wir uns das einfach kurz durch. Kirschbaum. Durchschnitt oder Reihe. Baum. Straße.
Könnte eine Kirschbaumallee sein. Wadoku behauptet zwar, dass 桜並木 alleine auch schon Kirschenallee beudetet, das kann im Japanischen aber schonmal vorkommen. Manchmal gibt es kürzere und längere Fassungen von Wörtern, die dasselbe bedeuten. Für 並木道 (also den hinteren Teil des Liedtitels ohne “Kirschbaum”) gibt es ebenfalls einen Eintrag als “Allee”.
Häufig kann man sich bei solchen Wörtern übrigens dann auch die Lesung aus den Onyomi zusammenstellen. Das wäre hier aber falsch gewesen, das Wort ist nämlich eines der wenigen, das komplett mit Kunyomi gelesen wird: さくらなみきみち (sakura nami-ki michi).
Ganz so gut klappt es übrigens nicht immer. Es ist schon relativ häufig so, dass die Wortbedeutung in irgendeinem groben Sinnzusammenhang mit den Einzelkanji steht, aber so nah wie hier nicht unbedingt. Ein Gegenbeispiel aus meinen letzten Wanikani-Vokabeln wäre 締切 (しめきり/shime-kiri - übrigens auch als Kunyomi gelesen). Hier haben wir als Einzelbedeutungen der Schriftzeichen aber 締 - “Zusammenbinden” und 切 - “Schnitt”. Die Bedeutung des ganzen Worts ist aber “Deadline”. Ein Zusammenhang besteht schon, aber herleitbar, ohne das Wort vorher schon zu kennen, ist es nicht.
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